Die meisten von uns sind keine Lebensmittelchemiker*innen – aber ob Nahrungsmittel verdorben sind, können wir in der Regel erkennen. Um Auto zu fahren, brauchen wir kein Physikstudium. Wir wissen auch so, dass uns die Fliehkraft unweigerlich aus der Kurve wirft, wenn wir diese mit vollem Tempo nehmen.
Wir müssen keine*e Expert*in sein, um unseren Alltag zu bewältigen. Das gilt auch im Digitalen: Netzexpert*innen oder Informatiker*innen müssen wir nicht sein, um das Internet nutzen zu können – ein bestimmtes Wissen aber brauchen wir, damit es uns nicht aus der virtuellen Kurve haut, damit wir uns nicht an Suchmaschinen und Messenger-Diensten den Magen verderben. Das nennt die Netzphilosophin Leena Simon „Digitale Mündigkeit“.
„Digitale Mündigkeit“ war das Thema beim letzten #femhubberlin des Jahres 2019 am 20. November im FCZB. Über 20 Frauen aus Vereinen, Bildungseinrichtungen, Frauen- und Antigewaltprojekten und Verlagen hörten Leena Simons Impuls und tauschten sich anschließend über Handlungsbedarfe und ‑möglichkeiten aus.
Digitale Mündigkeit
„Digitale Mündigkeit bedeutet, Verantwortung für das eigene Handeln im digitalen Raum selbst zu tragen“, erklärt Leena: Es geht darum, Verantwortung für sich und für andere zu übernehmen – und damit mehr um eine Haltung als um Wissen.
Dabei sei Mündigkeit ein Muskel, der ständig trainiert werden will, um gut zu funktionieren. Was das konkret heißt, erklärte Leena anhand zahlreicher Beispiele.
Raubkatzen – oder Fahrzeuge aus dem Premium-Segment
Raubtier, Verbreitung von Mexiko bis Argentinien, geflecktes Fell, Artenschutz – oder Sportwagen, Limousine, SUV, Zweiliter-Turbo – welche Stichworte uns Google zum Thema „Jaguar“ liefert, hängt auch davon ab, was die Suchmaschine bereits über uns weiß. Der Internetdienst analysiert das Profil seiner Nutzer*innen, sodass er Tierliebhaber*innen neben Tipps zum Autokauf auch Informationen über die Großkatze, Autofreaks hingegen nur Details zu Baureihen, Heckantrieb und Vierzylindern liefert.
Filterblasen und Verschwörungstheorien
Solche nutzerzugeschnittenen Ergebnisse führen nicht zuletzt dazu, dass der Suchdienst uns präsentiert, was wir hören wollen. So bleiben wir innerhalb unserer eigenen Filterblase gefangen.
Digitale Mündigkeit dagegen, so Leena, bedeutet auch, sich verantwortungsvoll zu informieren, sprich, die eigene Filterblase hin und wieder zu verlassen – oder sich der Ge- und Befangenheit in der eigenen Echokammer wenigstens bewusst zu werden.
Denn Algorithmen, so Leena weiter, haben eine extremisierende Tendenz. Folge ich einem verschwörungstheoretischen Link, so präsentiert mir der Internetdienst beim nächsten Mal möglicherweise Treffer, die noch wildere Verschwörungstheorien bedienen.
Sich das bewusst zu machen, ist schon mal gut. Genauso wie der Vorschlag, alternative Suchmaschinen zu nutzen wie Metager, DuckDuckGo, Startpage oder Ecosia.
Wie erkenne ich, welchem Internetdienst ich vertrauen kann?
Digital mündige Menschen und solche, die es werden wollen, sollten zuerst einen Blick in die AGB der Internetdienste werfen. Für eine erste Einschätzung genüge es, einen Absatz zu lesen: Ist er verständlich? Und was ist mit der Länge – ist es realistisch, die AGB ganz zu lesen, sprich: Will der Anbieter, dass ich seine AGB lese und verstehe?
Angesichts zahlreicher kostenloser Internetdienste plädiert Leena für Bezahldienste und freie Software. Als zahlende Kundin kann ich gewisse Ansprüche an Datensicherheit und Anonymität stellen – während es kostenlosen Diensten allzu oft darum geht, Daten über die Nutzer*innen zu sammeln bzw. zielgruppengerechte Werbung zu präsentieren: Melde ich mich bei WhatsApp an, lädt der Messenger-Dienst automatisch mein gesamtes Adressbuch hoch. Auch Namen, Nummern und Notizen zu Personen werden gespeichert, die sich vielleicht selbst aus genau diesem Grund niemals bei WhatsApp anmelden würden.
Für freie Software spricht sich Leena aus, weil sie einen freien, das heißt frei zugänglichen Quellcode hat. Davon profitieren auch Nutzer*innen, die den Code selbst nicht verstehen: Sie haben – ähnlich wie etwa bei Gesetzestexten – immerhin die Möglichkeit, sich Unterstützung von Fachleuten zu holen.
Dennoch rät Leena, sich grundsätzlich bei Fragen und Problem eine halbe Stunde Zeit zu nehmen, um selbst nach einer Lösung zu suchen oder sich zumindest einen ersten Überblick zu verschaffen.
Fragen und Diskussionspunkte
Im Anschluss an den Impulsvortrag gab es – wie bisher immer beim #femhubberlin – mehr Wortmeldungen und Diskussionsbedarf als Zeit:
- Wie kann digitale Mündigkeit praktisch funktionieren?
- Können wir Schüler*innen zu digitaler Mündigkeit animieren – und wie?
- Wie kann für adäquate digitale Bildung an Schulen gesorgt werden – auch angesichts dessen, dass Schulen die digitale Bildung häufig an Stiftungen übertragen, die damit auch eigene Interessen verfolgen?
- Wäre ein Gütesiegel à la Blauer Engel zur Bewertung von Internetdiensten hilfreich? Oder ist die Digitalisierung schlicht zu schnelllebig, als dass ein solches Zertifikat funktionieren könnte?
- Wo ist die*der Einzelne, wo „die Politik“ gefordert, wenn es darum geht, sich und die eigenen Daten zu schützen?
Angesichts der Fülle an Diskussionspunkten beschloss die Runde: Statt wie bisher im Dreimonatsrhythmus soll das #femhubberlin 2020 alle zwei Monate stattfinden.
Tipps zur „Angewandten Digitalen Mündigkeit“ und mehr findet sich hier.
Leena Simon ist graduierte (Netz-)Philosophin und Politologin. Sie arbeitet im Anti-Stalking-Projekt im Frieda Frauenzentrum und für den Verein Digitalcourage e.V.