Karin Reichel: Arbeit 4.0 – Geschlechterverhältnisse 4.0

Weiterbildung, Digitalisierung, Feminismus – das sind nur einige Schwerpunkte, die die neue FCZB-Geschäftsführerin Karin Reichel auf ihre Agenda gesetzt hat. Seit September 2017 leitet die promovierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin das FrauenComputerZentrumBerlin in Kreuzberg.

Cuvrystraße 1, Hinterhaus, direkt an der Spree. Das Büro der neuen Chefin liegt im vierten Stock – der Blick nach draußen geht weit über den Fluss und zeigt Berlin von einer anderen Seite.

Karin Reichel hat in ihrem Leben schon oft die Perspektive gewechselt. Aufgewachsen in Baden-Württemberg, geht sie 1985 nach Berlin, um an der TU Psychologie zu studieren. Sie lebt in Nicaragua, ist später Aufsichtsrätin im Verein Arbeit Bildung und Forschung e.V., Mitglied im wissenschaftlichen Ausschuss des Ökonominnen-Netzwerks Economic Feminism and Science (efas).

Spezialisiert auf Arbeits- und Organisationspsychologie, berät sie als Freiberuflerin Unternehmen zur Organisations- und Personalentwicklung.

Ihre Doktorarbeit schreibt sie über Machtprozesse in Reorganisationsprojekten, leitet später die Weiterbildung „Strategische Kompetenz für Frauen in Aufsichtsräten“ am Harriet-Taylor-Mill-Institut an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und bekommt dort eine Professur „Personal und Organisation“.

Beste Voraussetzungen also für das FCZB? Natürlich, meint die 52-Jährige: „Digitale Kompetenzen, die ganze Frage nach Geschlechterverhältnissen im Rahmen der Digitalisierung und auf dem Arbeitsmarkt hat ganz viel mit Arbeits-und Organisationspsychologie zu tun.

Wie Arbeitsabläufe und -bedingungen gestaltet sind. Auch der betriebswirtschaftliche Blick, effizient zu arbeiten und mit dem Geld auszukommen, ist eine wichtige Kompetenz für eine Geschäftsführerin. Das FCZB ist ja nicht gewinnorientiert, sondern gemeinnützig.

Auch in solchen Betrieben muss man gut wirtschaften, um mit seinen Mitteln zum Ziel zu kommen. Wenn die Ressourcen tendenziell immer knapp sind, muss man umso besser haushalten.“

Der logische Weg. Von der Theorie in die Praxis

Ausschlaggebend für die Bewerbung im FCZB sei das Gleichstellungspolitische gewesen, sagt Karin Reichel.

„Es geht um Digital Empowerment, es geht um Teilhabe von marginalisierten Gruppen, es geht um den gleichstellungspolitischen Anspruch.

Dafür habe ich auch an der Hochschule gearbeitet, z.B. mit Aufsichtsrätinnen. Im FCZB geht es um andere Zielgruppen, aber die Ziele sind die gleichen. Das sind die Ziele, die mich schon mein ganzes Leben begleiten – beruflich und privat.“

Doch auch die Arbeit im Team reizt die 52-Jährige in ihrem neuen Job. „Ich war sowohl als Professorin wie auch als Selbstständige häufig als Einzelkämpferin unterwegs.

Hier sind so tolle Frauen, die hochmotiviert sind. Es ist für mich wichtig, ein Team zu haben, mit dem ich etwas gestalten und entwickeln kann. Das ist ja auch Empowerment.“

Nur für Frauen? Warum eigentlich nicht?

Das FrauenComputerZentrumBerlin e.V. (FCZB) war 1984 die bundesweit erste Bildungseinrichtung, die IT-Fortbildungen für Frauen angeboten hat.

Bis heute, mehr als 30 Jahre und viele informationstechnologische Sprünge später, richten sich die Angebote weiterhin nur an Frauen. Ist das nicht total altmodisch und aus der Zeit gefallen?

Überhaupt nicht, findet Karin Reichel: „Wir leben in einer Männergesellschaft, aber die Stärkung von Frauen funktioniert häufig besser in reinen Frauenangeboten. In gemischtgeschlechtlichen Seminaren sind es doch nach wie vor die Männer, die dominieren, mehr reden, mehr Platz und mehr Raum beanspruchen.

Es geht wie so oft um Macht. Und Machtverhältnisse sind eben auch Geschlechterverhältnisse. Man kann auch sagen: Geschlechterverhältnisse sind Machtverhältnisse. Unser Ziel ist Empowerment – wir wollen Frauen in ihrer Vielfalt bestärken. Das wird eine Kernkompetenz des FCZB bleiben.“

Dazu gehört auch, dass es im FCZB viele Role Models gibt, also Frauen, von denen frau sich einiges abgucken kann, z.B. bei den Systemadministratorinnen.

„Zu sehen, dass Frauen selbstverständlich mit Technik umgehen und die Server im Griff haben, auch das ist Empowerment.“

Und deswegen werde das FCZB auch weiterhin reine Frauen-Fortbildungen anbieten.

Digitalisierung ist auch Frauensache

Frauen machen mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in Deutschland aus. Doch auch nach 100 Jahren Frauenwahlrecht und fast 70 Jahren Grundgesetz ist die Verteilung von weiblicher und männlicher Macht in Politik und Wirtschaft nicht ausgewogen.

Egal, ob in DAX-notierten Unternehmen oder in Chefredaktionen, meistens sind es Männer, die bestimmen.

„Wir Frauen haben meist nicht die Positionen, um die Gesellschaft und die politischen Verhältnisse in ausreichendem Ausmaß mitzugestalten. Da gibt es noch wahnsinnig viel zu tun.“

Gleichzeitig sei es wichtig, so Karin Reichel, sich in aktuelle Diskussionen einzumischen, z.B. bei der Digitalisierung.

„Interessant ist ja, dass die Diskussion ähnlich wie 1984 ist. Als damals die ersten Computer kamen, wurde gefragt, welche Auswirkungen sie auf den Arbeitsmarkt haben, besonders auch für Frauenarbeitsplätze.

Stichwort Mensch-Maschine-Schnittstellen: Wie werden die gestaltet? Wie sind die Arbeitsbedingungen, bleiben dann nur noch Restarbeitsplätze oder werden Menschen überhaupt nicht mehr gebraucht?

Genau darum geht es auch in den heutigen Diskussionen. Ganz viele Argumente, die wir heute diskutieren, waren damals schon aktuell. Das Thema Technikfolgenabschätzung, womit das FCZB ja auch angefangen hat, steht jetzt wieder ganz dringend an.

Das Thema Gleichstellung, der Genderaspekt taucht heute allerdings so gut wie gar nicht auf, da es eine sehr männerdominierte Diskussion ist. Das Thema wird meiner Meinung nach zu positiv und unkritisch dargestellt. Da könnten wir noch aktiver werden und uns noch besser positionieren.“

Feminismus und Vielfalt

Reichel verweist gerne auf Justin Trudeau, den kanadischen Premierminister. Der Politiker bezeichnet sich als Feminist und fordert seine Landsleute schon länger auf, sich mit Feminismus zu beschäftigen. Sein Kabinett besteht zu gleichen Teilen aus Frauen und Männer.

Angela Merkel weiß mit Feminismus nicht so viel anzufangen, und der Anteil von Frauen im deutschen Bundestag ist nach der Wahl im September 2017 auf ein Drittel gesunken.

„Das ist ein Rückschritt und kein Fortschritt“, meint Dr. Reichel. „Gleichstellungspolitik ist eine weite Strecke, die man besser gemeinsam geht. Wenn wir Frauen es nicht hinkriegen, effektiver zusammenarbeiten und eine Gegenmacht zu organisieren, dann werden wir auch gesellschaftspolitisch wenig stemmen.“

Bei allem Engagement für Frauen geht es Reichel um mehr: „Wir wollen auch andere Menschen in ihrer Vielfalt stärken. Also Empowerment für alle Gruppen, die zu wenig Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe haben.“

Sozial? Liberal? Neoliberal?

Auf der politischen Ebene sieht die Betriebswirtschaftlerin Probleme: „In vielen Projekten sind unsere Zielgruppen Menschen in prekären Lebenslagen.

Beim Berliner Sozialgipfel vor der Bundestagswahl haben die Spitzenkandidat_innen der Parteien für diese Gruppen vieles versprochen.

Wenn ich aber sehe, wie wenig Geld beispielsweise in die Hand genommen wird für geflüchtete Frauen oder für Frauen mit Langzeiterkrankungen, die alle mit vielfältigen Problemlagen zu uns kommen, hier gecoacht und beraten werden, um wieder arbeiten zu können, dann finde ich, dass auf der strukturellen Ebene noch ganz viel passieren muss.“

Dazu komme, dass viele Frauen von Amts wegen ökonomisch abhängig gemacht werden, wenn sie in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Verdient der Partner mehr, wird der Hartz-IV-Satz der Frau gesenkt.

„Das ist kein individuelles Problem und kein Einzelfall, sondern in unserer Gesellschaft strukturell verankert“, stellt Karin Reichel fest.

Auch im wirtschaftlichen Sektor sieht sie einigen Verbesserungsbedarf: „Viele Frauen arbeiten für sehr wenig Geld. Die Fast-Vollerwerbstätigkeit, die wir heute haben, gründet auf einem größer werdenden Niedriglohnsektor, durch zu viele prekäre Arbeitsverhältnisse. Das wird ja gern ausgeklammert.“

Blick nach vorn

Auch die Gewerkschaften könnten noch viel mehr tun, wenn es um Genderfragen gehe. In vielen Bereichen werde Klientelpolitik für die überwiegend männlichen Facharbeiter in der Industrie gemacht.

„Das ist interessengeleitetes Handeln. Der ganze Niedriglohnsektor wird da vollkommen ausgeblendet. Und damit sind wir wieder bei den Machtverhältnissen. Die Entscheider, die die Spielregeln festlegen und dann ihre Interessen durchsetzen, das sind vielfach die Männer.“

Dafür hat Karin Reichel mit ihrem Team eine klare Perspektive: „Wir müssen schauen, wer ähnliche Interessen wie wir vertritt. Mit wem kooperieren wir schon und mit wem können wir sonst noch arbeiten?

Dann kann das FCZB in zwei, spätestens drei Jahren auch in den Feldern Arbeit 4.0 und Geschlechterverhältnisse 4.0 eine gesellschaftspolitisch relevante Akteurin sein. Wir werden diese Themen gemeinsam voranbringen!“